Mittwoch, 5. März 2014
Der Club der toten Denker
philipmeinhold,
14:15
Das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, kurz ADS, ist gemeinhin etwas, was man bei kleinen Jungs und Heranwachsenden diagnostiziert. Doch seit Neuestem hat sich im deutschen Feuilleton und der artverwandten Publizistik eine Spielart der nervtötenden Krankheit verbreitet, die vor allem gutbürgerliche Männer um die Sechzig befällt. Erste Anzeichen dieser gerontologischen ADS-Variante ließen sich vor ein paar Jahren bei den einstigen Großschriftstellern Walser und Grass erkennen, die mit antisemitischen Stereotypen in Wort und Schrift für mediale Aufregung sorgten. Ließen sich die Ausfälle damals noch als singuläre Vorkommnisse verwundert zur Kenntnis nehmen, so haben sie sich mittlerweile zu einer regelrechten Epidemie ausgewachsen. Deren auffälligstes Symptom: eine in Folge langjähriger medialer Präsenz erworbene Schlagzeilensucht, die in Verbindung mit den hyperaktiven Anteilen der Störung zu einer Schreib-Diarrhö in Form von Kolumnen, Büchern und Blogtexten führt. Egal, ob Harald Martenstein, Matthias Matussek oder Reinhard Mohr: Wie Flitzer, die im Fußballstadion übers Spielfeld keilen, lassen die einstigen Feuilleton-Granden keine Gelegenheit aus, sich öffentlich selbst zu desavouieren, wobei sie auch der Verlust ihrer intellektuellen Rest-Reputation nicht schreckt. Bevorzugtes Thema ihrer geradezu aberwitzigen medialen Krawallsucht ist der Kampf gegen alles politisch Korrekte, sogenanntes „Gutmenschentum“ und „Gleichmacherei“. So erklärte Matussek in einer selbstverständlich ironisch gemeinten Überschrift: „Ich bin wohl homophob, und das ist auch gut so“, während Reinhard Mohr angesichts der Diskussion um die Berliner Mohrenstraße in einer Radiokolumne argwöhnte: „Hilfe, mein Name ist nicht korrekt!“ Und Harald Martenstein greift sowieso dankbar jedes Thema auf, um von Blackfacing bis Frei.Wild gegen vermeintliche „Denkverbote“ anzuschreiben – was auf kuriose Weise mit der eigenen Denkfaulheit korreliert. Bereits in einem fortgeschrittenen Stadium der Aufmerksamkeitshuberei scheint sich bekanntlich Thilo Sarrazin zu befinden, der mit „Deutschland schafft sich ab“ zwar das meistverkaufte Sachbuch nach 1945 schrieb und dem die Bild-Zeitung noch für jeden quersitzenden Furz eine Bühne bietet, was ihn jedoch nicht davon abhält, in seinem jüngsten wahndurchzogenen Werk „über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland“ zu schwadronieren. Dabei weist die Ich-Bezogenheit der genannten Texte neben einer auf Schlagzeilen und Skandale geeichten Medienwelt auf eine weitere Ursache des multifaktoriell bedingten Störungsbilds hin: ein gerüttelt Maß an Eitelkeit der Betroffenen, geradezu mustergültig von Welt-Kolumnist Matussek vorgeführt, der in einer Entgegnung auf den Medienjournalisten Stefan Niggemeier den 15 Jahre jüngeren Kollegen zum publizistischen Schwanzvergleich lädt. Dabei zählt Matussek zunächst zeilengreifend seine beruflichen Stationen und medialen Großtaten auf – zwanzig Bücher, „davon drei Bestseller, die entschlossen quer zu Zeitgeist und Mode stehen, ferner Romane, Kurzgeschichten, TV-Formate“, und: „Jawoll, auch ich stehe in Unterrichtsbüchern“, weshalb sich auch niemand mehr über Deutschlands PISA-Ergebnisse wundern muss –, um sich gegen Ende des Texts schließlich selbst zu zitieren. Mit der Eitelkeit einher geht offenbar die Kränkung des Alterns, weshalb Matussek nicht nur die LSD-Trips seiner Jugend erwähnt, sondern auch, dass er „alle möglichen Formen der Sexualität erprobt hat“ – wobei ihm die narzisstische Schreib-Onanie offensichtlich am meisten behagt. Bleibt die Frage, wie sich der ADS-Befall der Alt-Feuilletonisten am besten eindämmen lässt: Sollte man es weiterhin mit der homöopathischen Verabreichung von Argumenten probieren, gegen die sich die Betroffenen meist immun erweisen? Oder warten, bis das Problem sich biologisch löst? Therapie erschwerend ist in jedem Fall, dass die Protagonisten aus ihren Provokationen ein einträgliches Geschäftsmodell machen konnten: So dürfte es Thilo Sarrazin mit seiner Sachbuch-Trilogie „Thilo gegen den Rest der Welt“ zum Millionär gebracht haben – während Harald Martenstein jedes noch so kleine Thema verwertet, das es auf die Tagesordnung einer Bezirksverordnetenversammlung schafft, um mit einem vermeintlichen Tabubruch halbwegs recherchefrei seine Kolumnen zu füllen. Am wirksamsten wäre vermutlich eine Schocktherapie, bei der Medien und Öffentlichkeit die Betroffenen mit Aufmerksamkeit verschonen – was indes gar nicht so einfach ist. Es ist ein bisschen wie bei einem Autounfall: Man kann einfach nicht aufhören hinzusehen. ... Link (1 Kommentar) ... Comment |
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Last modified: 20.01.20, 13:07 Status
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Kommentare
Contact request Lieber Philip Meinhold
Wie könnte ich Sie per Email erreichen? Ich heiße Omer...
Oliverfunk, vor 5 Jahren
als spross eines naziclans
hab ich jahrzehntelang meinen schuldkomplex abgearbeitet war 1987 zwei wochen...
wilhelm peter, vor 10 Jahren
Moabit Ich verstehe den Hintergrund
für den Artikel sehr gut. Dennoch bleibt zu behaupten, die...
Mario Murer, vor 10 Jahren
Ja.
Beknackt
ist ja auch, daß in den Townhouses die Wohnungen plötzlich senkrecht statt...
stralau, vor 10 Jahren
ich kenne keinen Investor, der
bereit ist, großzügige Räume im historischen Bestand (etwas Dachräume)...
Kalkspazz, vor 10 Jahren
Können Sie nicht in den
Schrank der Großeltern ziehen? Dann sind die Sachen auch...
philipmeinhold, vor 10 Jahren
Ja! Ja! Ja! Hier in
Frankfurt gibt es ja das neue "Europaviertel", von mir...
andreaffm, vor 10 Jahren
ja es ist auch gutes
übriggeblieben man erkennt an dem posting allzudeutlich dass nicht...
wilhelm peter, vor 11 Jahren
bin 60 und ziehe mir
den schuh an selten so gelacht tolle polemik lsd...
wilhelm peter, vor 11 Jahren
Oh, nein! Das kommt davon,
wenn man aufgehört hat, das Kino-ABC nach Hitchcocks zu...
philipmeinhold, vor 11 Jahren
"Blackmail" "Blackmail" lief am 28.
Juni 2011 im Babylon Mitte mit Live-Orgelbegleitung. Großartig!
donegal68, vor 11 Jahren
unabhängigkeit Hallo Herr Meinhold,
leider beleuchtet auch ihr hier verfasster Artikel die Problematik nicht wirklich....
medionso, vor 12 Jahren
Wir brauchen einen ÖR... ...
aber diesen nicht. Siehe die Beiträge oben. Ich bin überhaupt...
uessen, vor 12 Jahren
Nein... Nein, nein, nein! Mein
persönliches Nutzungsprofil des ÖR ist ziemlich überschaubar: Von selber eigentlich...
Enter, vor 12 Jahren
Alternativen Hallo Herr Meinhold !
Ich kann Abhilfe schaffen, um die Angst vor Tellerrändern (und...
rugay, vor 12 Jahren
Meinen Sie diesen Schönenborn? http://www.politaia.org/internet-und-medien/putin-lasst-gez-schonenborn-auflaufen/
Ich kann GEZ-Steuern mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Ihr Beitrag...
Infoliner, vor 12 Jahren
Die Graffiti-Analogie verstehe ich nicht.
Zur "Verbeamtung": Das ist ja ebenfalls eines der Vorurteile...
philipmeinhold, vor 12 Jahren
Betriebsblind. Die Leute regen sich
nicht über die sagenhafte Programmvielfalt eines Qualitätsmediums auf, sondern, über...
Scriptmaster, vor 12 Jahren
Ihre Ausführungen ähneln denen eines
15-Jährigen, der bei seiner "Grafitti-Kunst" erwischt wurde und nun...
bernd23, vor 12 Jahren
Und damit sind die GEZ-Hasser
dann in der Gesellschaft, die zumindest die undifferenzierte Kritik...
philipmeinhold, vor 12 Jahren
derselbe Fehler "Und dafür zahle
ich GEZ!" ist also nicht hilfreich und reichlich abgedroschen? Gleiches...
ThomasL, vor 12 Jahren
ich mach mir die welt
wie sie mir gefällt.. aus pipi langstrumpf,eine serie die ich...
neuheide, vor 12 Jahren
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