zweifelturm
Freitag, 29. August 2014
Der Nächste, bitte!

Darf‘s ein Iced Flat White sein? Im großen Berliner Szenekiez-Roulette ist die Kugel jetzt bei Moabit liegen geblieben. Obwohl ich viele Jahre genau darauf gesetzt hab, will ich den Gewinn nicht mehr haben.

Vor gut zehn Jahren schrieb ich für ein großes Berliner Stadtmagazin einen Artikel über Moabit, in dem ich den Lesern das Viertel als einen lebenswerten Kiez andiente. Ich lobte den Tiergarten, den Plötzensee, die Lage, die Mieten – meine These: Moabit habe das Potenzial zum Szenebezirk. Damals wurde man noch angesehen, als käme man von einem anderen Stern, wenn man sagte, dass man hier wohne. Es gab keine Touristen, keine Clubs, keine Szenekneipen – und so gut wie nie kam einer meiner Freunde hierher, um sich mit mir zu treffen. Der Name des Viertels wurde allenfalls mit unschönen Wortverbindungen assoziiert: Justizvollzugsanstalt, Kriminalgericht, Krankenhaus. Hier gab es das Hauptquartier der Berliner Hells Angels, die Drogen- und Trinkerszene im Kleinen Tiergarten – und im Memory II (Sektfrühstück für 6,50 Mark) wurde sogar mal einer erschossen.

Bei Plus an der Stromstraße konnte sich nicht einmal die Wursttheke halten, weil das Geld der Anwohner gerade mal für die abgepackte Mettwurst reichte; und zwischen all den holzgetäfelten Eckpinten und einer handvoll gutbürgerlicher, aber sterbenslangweiliger Cafés gab es genau eine Kneipe, in der sich der angenehme Teil der Nachbarschaft traf. Wir passten an einen Tresen.

Doch trotz meines beschwörenden Artikels tat sich hier viele Jahre lang nichts, außer dass ein Internetcafé öffnete, während ein anderes schloss, und die Stromstraße versuchte, in Sachen Spielcasinodichte Las Vegas den Rang abzulaufen.

Als dann tatsächlich die ersten Vorboten der Veränderung kamen, nahmen wir Alteingesessenen diese halb belustigt, halb erstaunt zur Kenntnis: Am S-Bahnhof Westhafen eröffnete ein Hostel (Haha!); in der sanierten Markthalle gab es statt Currywurst und Engelhardt jetzt Bio-Burger und selbstgebrautes Bier (Warum nicht?); und auf der Brache der ehemaligen Paechbrot-Fabrik machte sich ein Einkaufszentrum namens Moa-Bogen breit, mit Fitnessstudio, Berlins größtem Asia-Buffet und Hotel – sowie einem Supermarkt mit riesiger Frischtheke für Wurst, Käse und Fisch (also doch!).

Seit ein paar Monaten geht es nun Schlag auf Schlag: Eine Coffee Bar verkauft Iced Chai, Blended Espresso und – whatever that means – Iced Flat White; direkt daneben eröffnet demnächst ein Second Hand Store für Edeltrash. Auf Stromkästen werben Plakate für eine Elektro-Party namens „Klangtherapie Moabit“ (mit DJ vom Tresor und dem Suicice Circus), sogar Barhopping kann man betreiben: Es gibt eine Tapas-, eine Nobel- und zwei Hipsterbars, letztere mit den üblichen unverputzten Wänden, zusammengeklaubten Wohnzimmermöbeln und einem Getränkeangebot von Mate Jäger bis Aperol Spritz. Dort, wo sich einst eine der ranzigsten Imbissbuden West-Berlins befand, kann man sich jetzt statt „Pommes rot-weiß“ ein Frühstücksangebot in den Geschmacksrichtungen herzhaft, vegetarisch und vegan bestellen. Was ist nur mit der guten, alten Asozialität geschehen? Man hört das Geräusch von Rollkoffern auf Kopfsteinpflaster, Englisch, Französisch – das dümmste Gewäsch verstehe ich zum Glück nur auf deutsch („Sie wollte ihn pushen, damit er sich als Künstler etablieren kann. Er ist immer so negativ.“)

Vor zehn Jahren hätte ich mich über jede einzelne dieser neuen Lokalitäten und Läden gefreut – und ein wenig tue ich das zugegebenermaßen noch immer: ein Kulturzentrum! Eine Bar! Ein Café! Doch die Zeit der ungetrübten Freude ist, was diese Dinge angeht, seit ein paar Jahren vorbei. Wir wissen, was das bedeutet: die Mieten! Die Monokultur! Dieser Hype! Wahrscheinlich ist es hier die nächsten zwei, drei Jahre ganz nett, fünf weitere bezahl- und aushaltbar. Danach kommen die Junggesellenabschiede, die Bierbikes, und einem wird in den Hausflur gereiert. Mieter ohne Altverträge und erkleckliches Einkommen können nach Reinickendorf, Marzahn und in die Uckermark ziehen.

Mein Artikel für das Stadtmagazin vor zehn Jahren endete übrigens mit dem Satz: „Wahrscheinlich, ist es das, was mir hier am besten gefällt: dass Moabit Szenebezirk werden könnte. Aber es wohl niemals wird.“ Mein Gott, ich war jung und naiv.

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Last modified: 20.01.20, 13:07
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Kommentare
Contact request Lieber Philip Meinhold
Wie könnte ich Sie per Email erreichen? Ich heiße Omer...
Oliverfunk, vor 5 Jahren
Oh, vielen Dank! Das freut
mich - und ich hoffe, das Buch hält dem...
philipmeinhold, vor 10 Jahren
als spross eines naziclans
hab ich jahrzehntelang meinen schuldkomplex abgearbeitet war 1987 zwei wochen...
wilhelm peter, vor 10 Jahren
Moabit Ich verstehe den Hintergrund
für den Artikel sehr gut. Dennoch bleibt zu behaupten, die...
Mario Murer, vor 10 Jahren
Hach, ja! Schön, war's!
philipmeinhold, vor 10 Jahren
Randnotiz: Der Plus in
der Stromstraße, 2002
Mama, vor 10 Jahren
Ja. Beknackt
ist ja auch, daß in den Townhouses die Wohnungen plötzlich senkrecht statt...
stralau, vor 10 Jahren
ich kenne keinen Investor, der
bereit ist, großzügige Räume im historischen Bestand (etwas Dachräume)...
Kalkspazz, vor 10 Jahren
Können Sie nicht in den
Schrank der Großeltern ziehen? Dann sind die Sachen auch...
philipmeinhold, vor 10 Jahren
Ja! Ja! Ja! Hier in
Frankfurt gibt es ja das neue "Europaviertel", von mir...
andreaffm, vor 10 Jahren
ja es ist auch gutes
übriggeblieben man erkennt an dem posting allzudeutlich dass nicht...
wilhelm peter, vor 11 Jahren
bin 60 und ziehe mir
den schuh an selten so gelacht tolle polemik lsd...
wilhelm peter, vor 11 Jahren
Oh, nein! Das kommt davon,
wenn man aufgehört hat, das Kino-ABC nach Hitchcocks zu...
philipmeinhold, vor 11 Jahren
"Blackmail" "Blackmail" lief am 28.
Juni 2011 im Babylon Mitte mit Live-Orgelbegleitung. Großartig!
donegal68, vor 11 Jahren
unabhängigkeit Hallo Herr Meinhold,
leider beleuchtet auch ihr hier verfasster Artikel die Problematik nicht wirklich....
medionso, vor 12 Jahren
Wir brauchen einen ÖR... ...
aber diesen nicht. Siehe die Beiträge oben. Ich bin überhaupt...
uessen, vor 12 Jahren
Nein... Nein, nein, nein! Mein
persönliches Nutzungsprofil des ÖR ist ziemlich überschaubar: Von selber eigentlich...
Enter, vor 12 Jahren
Alternativen Hallo Herr Meinhold !
Ich kann Abhilfe schaffen, um die Angst vor Tellerrändern (und...
rugay, vor 12 Jahren
Meinen Sie diesen Schönenborn? http://www.politaia.org/internet-und-medien/putin-lasst-gez-schonenborn-auflaufen/
Ich kann GEZ-Steuern mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Ihr Beitrag...
Infoliner, vor 12 Jahren
Die Graffiti-Analogie verstehe ich nicht.
Zur "Verbeamtung": Das ist ja ebenfalls eines der Vorurteile...
philipmeinhold, vor 12 Jahren
Betriebsblind. Die Leute regen sich
nicht über die sagenhafte Programmvielfalt eines Qualitätsmediums auf, sondern, über...
Scriptmaster, vor 12 Jahren
Ihre Ausführungen ähneln denen eines
15-Jährigen, der bei seiner "Grafitti-Kunst" erwischt wurde und nun...
bernd23, vor 12 Jahren
Und damit sind die GEZ-Hasser
dann in der Gesellschaft, die zumindest die undifferenzierte Kritik...
philipmeinhold, vor 12 Jahren
derselbe Fehler "Und dafür zahle
ich GEZ!" ist also nicht hilfreich und reichlich abgedroschen? Gleiches...
ThomasL, vor 12 Jahren
ich mach mir die welt
wie sie mir gefällt.. aus pipi langstrumpf,eine serie die ich...
neuheide, vor 12 Jahren

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