zweifelturm
Freitag, 19. Juli 2013
"O Jugend, o West-Berlin" - Einleitung

Hier die Einleitung zu meinem neuen E-Book „O Jugend, o West-Berlin“, erhältlich in allen gängigen E-Book-Stores.

Meine erste Erinnerung an Berlin als Stadt – nicht an unsere Straße, den Spielplatz, den Weg zum Kindergarten, sondern an Berlin als Stadt mit eigenem Charakter – stammt von der Rückkehr von einer Urlaubsreise. Ich war wohl drei oder vier. Es war bereits dunkel, und wir fuhren über die Avus in die Stadt hinein – links die Zuschauertribüne der Avus, rechts das Motel, weiter entfernt der erleuchtete Funkturm. Das Gefühl, nach Hause zu kommen. Noch heute kann ich diese Verbindung von Heimat und Nacht, von Müdigkeit und Aufregung nachempfinden.

Ich glaube nicht, dass es nur an dem Wahrzeichen lag, das ich womöglich wiedererkannte, an dem Wissen: Gleich sind wir daheim. Wahrscheinlich lag es auch an der Transitstrecke und der Grenzkontrolle, die wir gerade hinter uns hatten. Wann man in West-Berlin war, war immer klar.

Diese Heimreise war gewissermaßen mein Initiationserlebnis als West-Berliner, ein Identitätsgefühl, das mich seitdem nicht verließ. „28 Jahre lang wuchs in West-Berlin eine Spezies heran, für die Vereinigung nichts mit ‚wieder‘ zu tun hatte“ , heißt es in diesem Buch. Meine ganze Kindheit und Jugend verbrachte ich hier – als ich achtzehn war, fiel die Mauer.

In den Texten dieses Buchs spüre ich der besonderen Atmosphäre jener Jahre nach, den Erinnerungen an ein „wunderbar unfertiges, unvollkommenes Berlin, das wie ein Auslaufplatz für Phantasien und Illusionen war“ . Ich erinnere mich an Eberhard Diepgen und die Deutschlandhalle, an Besuche auf der Grünen Woche und im Grips Theater, an die Junge Union und das Big Sexyland.

Dabei erfüllt dieses Buch keinen Anspruch auf Vollständigkeit, vielleicht nicht mal auf Richtigkeit. Die Texte sind so, wie Erinnerungen nun mal sind: bruchstückhaft, sprunghaft und subjektiv – im besten Fall funktionieren sie wie ein Kaleidoskop, in dem aus bunten Scherben ein Bild der Vergangenheit entsteht.

Die meisten der hier versammelten Texte sind in den vergangenen 15 Jahren in verschiedenen Zeitungen erschienen – in taz und Frankfurter Rundschau, in brand eins oder Jungle World –, einige habe ich für diese Sammlung verfasst. Doch ich blicke nicht nur in die Vergangenheit, ich richte den Blick auch auf das Hier und Jetzt, die Differenz zwischen Damals und Heute: „Es ist schon merkwürdig: Wenn man das Berlin von heute mit dem Blick von damals ansieht, dann wirkt es wie eine Zukunftsvision aus einem Seyfried-Cartoon: der Springer-Verlag sitzt in der Rudi-Dutschke-Straße, auf dem einst besetzten Lenné-Dreieck ragen Hochhäuser von Daimler, Sony und Deutscher Bahn in den Himmel, vor dem Reichstag gibt es eine U-Bahn-Station namens Bundestag.“ Es ist interessant zu sehen, wie man selbst zum Zeitzeugen wird, wenn die Stadt, in der man lebt, sich Stück für Stück ändert.

Bei einigen der Texte wird der Leser bemerken, dass auch der einstige Gegenwartsbezug bereits wieder veraltet ist. Und so ist dieses Buch auch eine Bestandsaufnahme der Zeit seit dem Mauerfall, das Protokoll einer sich fortschreibenden Inventur dieser Stadt. „Wie hat sie ausgesehen, gerochen, sich angefühlt – vor zwanzig Jahren, als die Mauer noch stand? Vor fünfzehn Jahren, als die Stadt gebaut wurde, in der wir jetzt leben? Vor zehn Jahren, als die Bonner und Beamten kamen und in ihrem Gefolge die Medien, Konzerne, Kulturschaffenden? Berlin ist wie ein Gemälde, das die ersten Pinselstriche enthält, sie gleichzeitig aber nicht preisgibt.“

Der Autor und Filmemacher Alexander Kluge hat mal erklärt, dass nicht nur Menschen Lebensläufe besäßen, sondern auch Gegenstände und Gebiete. Die Biographie des Ruhrgebiets zum Beispiel umfasst laut Kluge etwa acht Generationen. Und so erzählt dieses Buch auch davon, wie die Biographie eines Menschen mit der seiner Stadt verknüpft ist – und die Biographie der Stadt mit der ihrer Bewohner; wie das eine das andere bedingt. „Was, wenn nicht die Summe unserer Erinnerungen macht uns aus?“ , heißt es in einem Text dieses Buchs. „Was macht uns zu denen, die wir sind?“Vielleicht ist Heimat deshalb so wichtig für uns – und vielleicht hat das der vierjährige Junge, der damals auf der Avus mit seinen Eltern in die Stadt hineinfuhr, auf eine wortlose Art erstmals begriffen.

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Last modified: 20.01.20, 13:07
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Kommentare
Contact request Lieber Philip Meinhold
Wie könnte ich Sie per Email erreichen? Ich heiße Omer...
Oliverfunk, vor 5 Jahren
Oh, vielen Dank! Das freut
mich - und ich hoffe, das Buch hält dem...
philipmeinhold, vor 10 Jahren
als spross eines naziclans
hab ich jahrzehntelang meinen schuldkomplex abgearbeitet war 1987 zwei wochen...
wilhelm peter, vor 10 Jahren
Moabit Ich verstehe den Hintergrund
für den Artikel sehr gut. Dennoch bleibt zu behaupten, die...
Mario Murer, vor 10 Jahren
Hach, ja! Schön, war's!
philipmeinhold, vor 10 Jahren
Randnotiz: Der Plus in
der Stromstraße, 2002
Mama, vor 10 Jahren
Ja. Beknackt
ist ja auch, daß in den Townhouses die Wohnungen plötzlich senkrecht statt...
stralau, vor 10 Jahren
ich kenne keinen Investor, der
bereit ist, großzügige Räume im historischen Bestand (etwas Dachräume)...
Kalkspazz, vor 10 Jahren
Können Sie nicht in den
Schrank der Großeltern ziehen? Dann sind die Sachen auch...
philipmeinhold, vor 10 Jahren
Ja! Ja! Ja! Hier in
Frankfurt gibt es ja das neue "Europaviertel", von mir...
andreaffm, vor 10 Jahren
ja es ist auch gutes
übriggeblieben man erkennt an dem posting allzudeutlich dass nicht...
wilhelm peter, vor 11 Jahren
bin 60 und ziehe mir
den schuh an selten so gelacht tolle polemik lsd...
wilhelm peter, vor 11 Jahren
Oh, nein! Das kommt davon,
wenn man aufgehört hat, das Kino-ABC nach Hitchcocks zu...
philipmeinhold, vor 11 Jahren
"Blackmail" "Blackmail" lief am 28.
Juni 2011 im Babylon Mitte mit Live-Orgelbegleitung. Großartig!
donegal68, vor 11 Jahren
unabhängigkeit Hallo Herr Meinhold,
leider beleuchtet auch ihr hier verfasster Artikel die Problematik nicht wirklich....
medionso, vor 12 Jahren
Wir brauchen einen ÖR... ...
aber diesen nicht. Siehe die Beiträge oben. Ich bin überhaupt...
uessen, vor 12 Jahren
Nein... Nein, nein, nein! Mein
persönliches Nutzungsprofil des ÖR ist ziemlich überschaubar: Von selber eigentlich...
Enter, vor 12 Jahren
Alternativen Hallo Herr Meinhold !
Ich kann Abhilfe schaffen, um die Angst vor Tellerrändern (und...
rugay, vor 12 Jahren
Meinen Sie diesen Schönenborn? http://www.politaia.org/internet-und-medien/putin-lasst-gez-schonenborn-auflaufen/
Ich kann GEZ-Steuern mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Ihr Beitrag...
Infoliner, vor 12 Jahren
Die Graffiti-Analogie verstehe ich nicht.
Zur "Verbeamtung": Das ist ja ebenfalls eines der Vorurteile...
philipmeinhold, vor 12 Jahren
Betriebsblind. Die Leute regen sich
nicht über die sagenhafte Programmvielfalt eines Qualitätsmediums auf, sondern, über...
Scriptmaster, vor 12 Jahren
Ihre Ausführungen ähneln denen eines
15-Jährigen, der bei seiner "Grafitti-Kunst" erwischt wurde und nun...
bernd23, vor 12 Jahren
Und damit sind die GEZ-Hasser
dann in der Gesellschaft, die zumindest die undifferenzierte Kritik...
philipmeinhold, vor 12 Jahren
derselbe Fehler "Und dafür zahle
ich GEZ!" ist also nicht hilfreich und reichlich abgedroschen? Gleiches...
ThomasL, vor 12 Jahren
ich mach mir die welt
wie sie mir gefällt.. aus pipi langstrumpf,eine serie die ich...
neuheide, vor 12 Jahren

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