zweifelturm
Sonntag, 25. August 2013
Tanztee für alternde Hells Angels

Der folgende Text stammt aus dem E-Book „O Jugend, o West-Berlin“.

„Berliner Entscheidungsfindung!“ Uli aus München schüttelte genervt den Kopf. Eine halbe Stunde schon standen wir klappernd vor Kälte an der Straßenecke und beratschlagten, wo wir jetzt hingehen sollten. Ins Café M? Da fanden wir sowieso keinen Platz. Ins Behrio? Ganz nett, aber zu wenig Frauen – und wir wollten uns wenigstens die Illusion bewahren, die Frau unseres Lebens zu treffen. In die Mutter? Kein vernünftiges Fassbier, nur das Scheiß-Scherdel, und dann auch noch viel zu teuer.

Für uns war es das samstägliche Eckensteh-Ritual, für meinen Münchener Besuch eine typische Berliner Eigenheit: die Unfähigkeit, sich kurz und knackig auf ein Café zu einigen. Dabei hatte es durchaus Zeiten gegeben, als das noch ging. Und dass es nun anders gekommen war, daran war einzig und allein die Rockerbraut Schuld.

Etwa zehn Jahre war es jetzt her, dass wir das Café Lux entdeckt hatten. Luxi, wie wir es schon bald liebevoll nannten. Für uns, frisch-examinierte Abiturienten, war das Lux eine Gottesgabe: cool genug, um sich dort sehen zu lassen, aber nicht so cool, dass wir uns darin uncool vorkamen. Die Wände bestanden aus rohen Ziegeln, im Zigarettenautomaten gab es P&S statt HB. Durch die Glasfront konnte man auf die Goltzstraße sehen, den Laufsteg der Schöneberger Szene. Wir saßen auf der roten Lederbank an der Wand, tranken Becks aus der Flasche, rauchten P&S, und wenn der Käsestangen-Verkäufer seine am Korb befestigte Klingel betätigte, rissen wir jubelnd die Arme hoch und schrien „Jawoll!“ und „Hurra!“.

Das Lux wurde Ausgangs- und Endpunkt unserer Abende – wobei wir es zwischen den beiden Punkten meistens gar nicht verließen. Für einen Ortswechsel hatten wir zu viel zu besprechen. Wir diskutierten, welches das beste Dijan-Buch sei und ob ein Comeback der Clash wünschenswert wäre. Wir stritten über die Vorzüge der verschiedenen Elemente des Haribo-Mixes – Frösche, Lakritzstangen und Spiegeleier –, und darüber, ob man es in zehn Jahren schaffen könne, Claudia Schiffer zu poppen. „Nie im Leben“, sagte Boris, „wie willst du denn rankommen an die?“ Rühle war anderer Meinung: „Wenn man alles andere diesem Ziel unterordnet, kannst du‘s schaffen! Du kannst eine Biographie über sie schreiben und sie so kennenlernen oder dich mit ihrem Gärtner befreunden. Wenn du es wirklich willst, kriegst du jede.“ – „Ach, und warum bist du dann seit zwei Jahren Single?“ – „Weil ich lieber mit euch im Luxi abhänge, du Spast.“ Nirgendwo konnte man Nichtiges so wichtig besprechen wie hier.

Wahrscheinlich würden wir noch heute so sitzen, das neueste Dijan rezensieren, darauf warten, dass The Clash reüssieren – wenn nicht eines Tages die Rockerbraut aufgetaucht wäre. Die Rockerbraut war die neue Bedienung. Sie trug Sekretärinnen-Brille und Rockröhren-Outfit, Cowboystiefel und kneifenge Jeans. Doch wäre ihr Äußeres noch zu ertragen gewesen, so war es ihr Musikgeschmack nicht: Als gälte es, einen Tanztee für alternde Hells Angels auszurichten, beschallte sie uns mit Aerosmith, Bryan Adams und Kiss. Anfangs versuchten wir noch, es mit Humor zu nehmen. Wir malträtierten unsere Luftgitarren und riefen: „Wir haben ja nichts gegen eine gepflegte Beatmusik.“ Unser einschränkendes „Aber“ wurde bereits vom nächsten Gitarrensolo verschluckt. Bald aber begannen wir durch die Fensterfront zu lugen, bevor wir das Luxi betraten. Wenn die Rockerbraut Tresendienst hatte, sagten wir: „Der DJ stimmt nicht“, und schlichen bedröppelt von dannen. Wer wollte von den Clash reden, wenn die Scorpions heulten? Wer Claudia Schiffer erwähnen, wenn Tina Turner rockte?

Wir mussten uns immer öfter schleichen. Die Rockerbraut hatte fast täglich Dienst, und irgendwann hieß es, sie habe das Lux übernommen. Im Hinterzimmer stellte sie einen Billiardtisch auf; bei der Metamorphose zum Musikcafé fehlten nur noch der Sand auf dem Boden und die Plastikpalmen. Wir gingen an unserer alten Liebe wie an einer verflossenen vorbei: Man weiß, dass es schön war, aber man versteht es nicht mehr; man kann nicht mehr nachvollziehen, was man einst an ihr fand.

Und als ich kürzlich das Luxi passierte, da war es gar nicht mehr da: Ein Yuppie-Café namens „Trüffel“ residiert nun in den Räumen; die Rockerbraut hatte das Lux zu Grunde beschallt. Zwar konnte ich mir ein grimmiges Lächeln nicht verkneifen, doch dieses Lächeln gefror mir schon bald im Gesicht. Am nächsten Wochenende standen wir klappernd vor Kälte mit Uli an der Ecke und überlegten, ob wir ins M, das Behrio oder die Mutter gehen sollten. Man hatte uns die Heimat genommen.

(2001)

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Last modified: 20.01.20, 13:07
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Kommentare
Contact request Lieber Philip Meinhold
Wie könnte ich Sie per Email erreichen? Ich heiße Omer...
Oliverfunk, vor 4 Jahren
Oh, vielen Dank! Das freut
mich - und ich hoffe, das Buch hält dem...
philipmeinhold, vor 9 Jahren
als spross eines naziclans
hab ich jahrzehntelang meinen schuldkomplex abgearbeitet war 1987 zwei wochen...
wilhelm peter, vor 9 Jahren
Moabit Ich verstehe den Hintergrund
für den Artikel sehr gut. Dennoch bleibt zu behaupten, die...
Mario Murer, vor 10 Jahren
Hach, ja! Schön, war's!
philipmeinhold, vor 10 Jahren
Randnotiz: Der Plus in
der Stromstraße, 2002
Mama, vor 10 Jahren
Ja. Beknackt
ist ja auch, daß in den Townhouses die Wohnungen plötzlich senkrecht statt...
stralau, vor 10 Jahren
ich kenne keinen Investor, der
bereit ist, großzügige Räume im historischen Bestand (etwas Dachräume)...
Kalkspazz, vor 10 Jahren
Können Sie nicht in den
Schrank der Großeltern ziehen? Dann sind die Sachen auch...
philipmeinhold, vor 10 Jahren
Ja! Ja! Ja! Hier in
Frankfurt gibt es ja das neue "Europaviertel", von mir...
andreaffm, vor 10 Jahren
ja es ist auch gutes
übriggeblieben man erkennt an dem posting allzudeutlich dass nicht...
wilhelm peter, vor 10 Jahren
bin 60 und ziehe mir
den schuh an selten so gelacht tolle polemik lsd...
wilhelm peter, vor 10 Jahren
Oh, nein! Das kommt davon,
wenn man aufgehört hat, das Kino-ABC nach Hitchcocks zu...
philipmeinhold, vor 10 Jahren
"Blackmail" "Blackmail" lief am 28.
Juni 2011 im Babylon Mitte mit Live-Orgelbegleitung. Großartig!
donegal68, vor 10 Jahren
unabhängigkeit Hallo Herr Meinhold,
leider beleuchtet auch ihr hier verfasster Artikel die Problematik nicht wirklich....
medionso, vor 11 Jahren
Wir brauchen einen ÖR... ...
aber diesen nicht. Siehe die Beiträge oben. Ich bin überhaupt...
uessen, vor 11 Jahren
Nein... Nein, nein, nein! Mein
persönliches Nutzungsprofil des ÖR ist ziemlich überschaubar: Von selber eigentlich...
Enter, vor 11 Jahren
Alternativen Hallo Herr Meinhold !
Ich kann Abhilfe schaffen, um die Angst vor Tellerrändern (und...
rugay, vor 11 Jahren
Meinen Sie diesen Schönenborn? http://www.politaia.org/internet-und-medien/putin-lasst-gez-schonenborn-auflaufen/
Ich kann GEZ-Steuern mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Ihr Beitrag...
Infoliner, vor 11 Jahren
Die Graffiti-Analogie verstehe ich nicht.
Zur "Verbeamtung": Das ist ja ebenfalls eines der Vorurteile...
philipmeinhold, vor 11 Jahren
Betriebsblind. Die Leute regen sich
nicht über die sagenhafte Programmvielfalt eines Qualitätsmediums auf, sondern, über...
Scriptmaster, vor 11 Jahren
Ihre Ausführungen ähneln denen eines
15-Jährigen, der bei seiner "Grafitti-Kunst" erwischt wurde und nun...
bernd23, vor 11 Jahren
Und damit sind die GEZ-Hasser
dann in der Gesellschaft, die zumindest die undifferenzierte Kritik...
philipmeinhold, vor 11 Jahren
derselbe Fehler "Und dafür zahle
ich GEZ!" ist also nicht hilfreich und reichlich abgedroschen? Gleiches...
ThomasL, vor 11 Jahren
ich mach mir die welt
wie sie mir gefällt.. aus pipi langstrumpf,eine serie die ich...
neuheide, vor 11 Jahren

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