zweifelturm
Hitchcock im Hinterhof

Die Kinostadt West-Berlin

Ein Sommerabend in Kreuzberg, anno 2012: Auf einem Hinterhof lümmeln etwa fünfzig Menschen auf Bierbänken und in Liegestühlen rum, an die Brandwand des Hauses wird ein Film projeziert: der Film-Noir-Klassiker „Kiss me deadly“. Die Vorstellung steht in keinem Kinoprogramm, der Eintritt ist frei, das Bier wird aus der Kneipe gegenüber geholt. Was wie eine Szenerie aus der Nachkriegszeit wirkt, bei der junge Menschen einen Kinoabend improvisieren, lässt sich auch als Symptom einer Entwicklung deuten. Wie Unkraut, das durch die Fugen der Betonplatten bricht, suchen sich die Freunde des abseitigen Films ihren Platz.

Dabei war Berlin immer Kinostadt: Fast 400 Lichtspielhäuser gab es hier vor rund hundert Jahren – Kinopaläste mit luxuriösen Zuschauerräumen, riesigen Leinwänden und noblen Foyers. „Die großen Lichtspielhäuser in Berlin sind Paläste, sie schlicht als Kinos zu bezeichnen wäre despektierlich!“, schrieb die Frankfurter Zeitung 1926. Das größte Kino der Stadt war mit 1800 Plätzen das Universum am Ku‘damm, in dem heute die Schaubühne residiert; im Gloria-Palast wurde der weltweit erste Tonfilm gezeigt. Auch das älteste noch betriebene Kino Deutschlands findet sich in Berlin: Seit 1907 gibt es das Moviemento am Kottbusser Damm, in einem Wohnhaus in der ersten Etage. In den Achtzigern arbeitete Tom Tykwer hier als Filmvorführer, später gestaltete er das Programm.

Und auch meine cineastische Sozialisation lässt sich anhand der Kinos West-Berlins erzählen: Im Zehlendorfer Bali sah ich mit „Mary Poppins“ meinen ersten Film; als ich zwölf war, fuhr ich sonntags regelmäßig ins Thalia in Lankwitz, um Elvis-Filme zu gucken. Mit dreizehn begann ich mit einem Freund, die Filme Alfred Hitchcocks zu sammeln. Nicht auf Video, geschweige denn DVD, sondern indem wir sie sahen. Wir besaßen jeder einen Bildband mit Fotos und Texten zu Hitchcocks Filmen, im Inhaltsverzeichnis vermerkten wir jeden gesammelten Film mit einem Bleistiftpunkt hinter dem Titel. Das Ziel: 57 Punkte.

Es gab noch keine gut sortierten Videotheken, erst recht kein Internet – und im Fernsehen nur fünf Programme. Alle zwei Wochen durchforsteten wir die Filmübersicht der Stadtmagazine auf der Suche nach neuen Hitchcocks. Die Chancen standen nicht schlecht. Berlin war ein Off-Kino-Eldorado, mit Klein-, Kleinst- und Kiezkinos jeder Couleur. Die zeigten Stumm- und Schwarz-Weiß-Filme, Kulthits und Randständiges, Perlen und echten Trash. Jedes Kino hatte sein eigenes Profil. Das Wilmersdorfer Eva zeigte den ortsansässigen Bildungsbürgern zwei Jahre lang den Oscar-prämierten Film „Amadeus“ (nur sonntags zur Matinee liefen, vermutlich den Wilmersdorfer Witwen zuliebe, Heimatfilme aus der Nazizeit); das Weddinger Alhambra zeigte jahrelang „Wedding“. Jedes Wochenende gab es in den verschiedensten Kinos „Lange Nächte“: Im Manhattan, in der Kulturwüste des Märkischen Viertels, sahen wir eine lange Woody-Allen-Nacht, im Weddinger Sputnik zehn Stunden Sergio Leone am Stück. Es gab John-Carpenter-Doppel und Marx-Brothers-Dreier – und im Moviemento-Vorgänger Tali Samstag für Samstag „Die Rocky Horror Picture Show“.

Unsere Sammelleidenschaft führte uns in die entlegensten Winkel der Stadt und an die abwegigsten Orte. Im Smokie im Ku‘dammeck durfte man rauchen, im Studio am Adenauerplatz gewöhnten wir uns das Kaffeetrinken an: Hier gab es zu den Filmen kostenlosen Kaffee. Im Hausprojekt KOB wurden über Beamer Filme mit Fernsehlogo in der Ecke auf die Leinwand geworfen; an der improvisierten Kasse gab es neben Schokoriegeln und Becks auch rauchfertige Joints zu kaufen. Im Schwulentreff Aha saßen wir eingeschüchtert auf versifften Sofas – wir wollten schließlich nur einen Hitchcock-Film sehen!

Mitte der Achtziger dann ein seltener Glücksfall: Fünf Hitchcock-Filme kamen in restaurierter Fassung ins Kino, nachdem sie jahrzehntelang nicht gezeigt worden waren. Im Saal 1 des Zoo-Palastes sahen wir „Vertigo“; im Foyer des Gloria-Palastes traten wir in einen Sitzstreik, weil man uns „Cocktail für eine Leiche“ nicht sehen lassen wollte, freigegeben erst ab 16 Jahren.

Das Aufstöbern nicht gesehener Hitchcock-Filme wurde mit fortschreitender Sammlung naturgemäß schwerer. In der Filmübersicht der Stadtmagazine wurden wir immer seltener fündig, nur das selten aufgeführte Frühwerk fehlte uns noch. Die Entwicklung der Kinolandschaft tat ein Übriges. Aus dem kleinen Alhambra wurde ein vierstöckiges Multiplex, das das Weddinger Prekariat mit Massenware und Popcorn in Eimern versorgt; kleinere Kinos wie Kurbel, Filmkunst 66 und Studio machten nach und nach dicht. Von den ehemals 22 Kinos am Ku‘damm – bis 1998 die Gegend mit der höchsten Kinodichte in Deutschland – haben ganze zwei überlebt. Im Gloria-Palast residiert Benetton, im Marmorhaus Zara, und in der Film-Bühne Wien, in der ich als Kind einst das „Dschungelbuch“ sah, öffnete kürzlich ein Applestore.

Natürlich ist das Angebot an Kinos in Berlin nach wie vor vergleichsweise gut: Es gibt Filmtheater, in denen Originalfassungen laufen; es gibt unabhängige Kinos, in denen man Raritäten sehen kann. Im Kreuzberger Regenbogenkino läuft eine lose Filmreihe mit dem Titel „Blick in die Filmgeschichte der 60er Jahre“, das Eva in Wilmersdorf zeigt sonntags immer noch alte deutsche Filme – die Wilmersdorfer Witwen sterben nicht aus. Doch es sind nur noch eine Handvoll Kinos, die sich so etwas leisten. Selbst die Filmauswahl der Arthouse-Kinos ist geringer geworden, weniger fragmentiert und verschroben. Die Kinolandschaft spiegelt die Entwicklung der Stadt: Die Mieten steigen, der Mainstream macht Druck, der Platz für Nischen wird enger. Allmählich muss ich mich wohl an den Gedanken gewöhnen, dass ich die wenigen Hitchcock-Filme, die mir noch fehlen, nicht mehr sehe.

Aber wer weiß: Vielleicht wird an einem jener improvisierten Filmabende auf einem Kreuzberger Hinterhof demnächst ja „Waltzes from Vienna“ oder „Blackmail“ gezeigt. Dann könnte ich zum ersten Mal seit fast zwanzig Jahren wieder einen Bleistiftpunkt in mein Hitchcock-Buch machen. Allen Multiplexen zum Trotz.

Dieser Text stammt aus dem E-Book „O Jugend, o West-Berlin“.

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Last modified: 20.01.20, 13:07
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Kommentare
Contact request Lieber Philip Meinhold
Wie könnte ich Sie per Email erreichen? Ich heiße Omer...
Oliverfunk, vor 4 Jahren
Oh, vielen Dank! Das freut
mich - und ich hoffe, das Buch hält dem...
philipmeinhold, vor 9 Jahren
als spross eines naziclans
hab ich jahrzehntelang meinen schuldkomplex abgearbeitet war 1987 zwei wochen...
wilhelm peter, vor 9 Jahren
Moabit Ich verstehe den Hintergrund
für den Artikel sehr gut. Dennoch bleibt zu behaupten, die...
Mario Murer, vor 10 Jahren
Hach, ja! Schön, war's!
philipmeinhold, vor 10 Jahren
Randnotiz: Der Plus in
der Stromstraße, 2002
Mama, vor 10 Jahren
Ja. Beknackt
ist ja auch, daß in den Townhouses die Wohnungen plötzlich senkrecht statt...
stralau, vor 10 Jahren
ich kenne keinen Investor, der
bereit ist, großzügige Räume im historischen Bestand (etwas Dachräume)...
Kalkspazz, vor 10 Jahren
Können Sie nicht in den
Schrank der Großeltern ziehen? Dann sind die Sachen auch...
philipmeinhold, vor 10 Jahren
Ja! Ja! Ja! Hier in
Frankfurt gibt es ja das neue "Europaviertel", von mir...
andreaffm, vor 10 Jahren
ja es ist auch gutes
übriggeblieben man erkennt an dem posting allzudeutlich dass nicht...
wilhelm peter, vor 10 Jahren
bin 60 und ziehe mir
den schuh an selten so gelacht tolle polemik lsd...
wilhelm peter, vor 10 Jahren
Oh, nein! Das kommt davon,
wenn man aufgehört hat, das Kino-ABC nach Hitchcocks zu...
philipmeinhold, vor 10 Jahren
"Blackmail" "Blackmail" lief am 28.
Juni 2011 im Babylon Mitte mit Live-Orgelbegleitung. Großartig!
donegal68, vor 10 Jahren
unabhängigkeit Hallo Herr Meinhold,
leider beleuchtet auch ihr hier verfasster Artikel die Problematik nicht wirklich....
medionso, vor 11 Jahren
Wir brauchen einen ÖR... ...
aber diesen nicht. Siehe die Beiträge oben. Ich bin überhaupt...
uessen, vor 11 Jahren
Nein... Nein, nein, nein! Mein
persönliches Nutzungsprofil des ÖR ist ziemlich überschaubar: Von selber eigentlich...
Enter, vor 11 Jahren
Alternativen Hallo Herr Meinhold !
Ich kann Abhilfe schaffen, um die Angst vor Tellerrändern (und...
rugay, vor 11 Jahren
Meinen Sie diesen Schönenborn? http://www.politaia.org/internet-und-medien/putin-lasst-gez-schonenborn-auflaufen/
Ich kann GEZ-Steuern mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Ihr Beitrag...
Infoliner, vor 11 Jahren
Die Graffiti-Analogie verstehe ich nicht.
Zur "Verbeamtung": Das ist ja ebenfalls eines der Vorurteile...
philipmeinhold, vor 11 Jahren
Betriebsblind. Die Leute regen sich
nicht über die sagenhafte Programmvielfalt eines Qualitätsmediums auf, sondern, über...
Scriptmaster, vor 11 Jahren
Ihre Ausführungen ähneln denen eines
15-Jährigen, der bei seiner "Grafitti-Kunst" erwischt wurde und nun...
bernd23, vor 11 Jahren
Und damit sind die GEZ-Hasser
dann in der Gesellschaft, die zumindest die undifferenzierte Kritik...
philipmeinhold, vor 11 Jahren
derselbe Fehler "Und dafür zahle
ich GEZ!" ist also nicht hilfreich und reichlich abgedroschen? Gleiches...
ThomasL, vor 11 Jahren
ich mach mir die welt
wie sie mir gefällt.. aus pipi langstrumpf,eine serie die ich...
neuheide, vor 11 Jahren

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